Orthodoxie und Polis „Suchet der Stadt Bestes”
Der Anspruch des christlichen Glaubens ist, keine Lehre, Religion oder Ideologie zu sein, sondern eine Art zu leben, und zwar gut zu leben, „in Fülle”. „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben” (Joh. 10, 10). Die Heilige Schrift eröffnet uns Wege des authentischen Lebens, indem sie uns vor Überraschungen und Herausforderungen stellt. Diese Wege betreffen sowohl das Leben eines einzelnen Menschen als auch das Leben einer Gesellschaft, eines Volkes. Die Herausforderungen, mit denen die Menschen in der Bibel konfrontiert wurden, und die Art und Weise, wie sie, unter der Führung Gottes, sich diesen Herausforderungen gestellt haben, zeigt uns den Weg, wie wir uns in unserer Zeit gegenüber den Herausforderungen der Geschichte verhalten sollten. Deshalb werden wir uns jetzt dem konkreten Kontext des bekannten Zitates „Suchet der Stadt Bestes” zuwenden, damit wir uns von Gott überraschen lassen, wie die Israeliten damals auch!
Die Israeliten befinden sich an einem schwierigen Wendepunkt in ihrer Geschichte: ein tief traumatisches Ereignis hat stattgefunden, ihre Hauptstadt, ihre Heilige Stadt, Jerusalem wurde von den Feinden, von den Babyloniern eingenommen und geplündert. Die Mehrheit der Einwohner wurde nach Babylon deportiert, aber was noch schlimmer war, der Tempel wurde geschändet und die heiligen Objekte wurden ebenfalls nach Babylon transportiert. Die Menschen standen unter Schock! In so einer Situation gibt es aber immer wieder Menschen, die leichtfertig, leichtgläubig und zuversichtlich sind, Menschen, die angeblich im Namen Gottes die baldige Rückkehr ihrer Landsleute und der heiligen Objekte aus dem babylonischen Exil voraussagen sollten. Gott sendet aber seinen wahren Propheten, Jeremias, der Klartext spricht: „Denn so spricht der Herr der Heere, der Gott Israels: Lasst euch nicht täuschen von den Propheten, die unter euch sind, von euren Wahrsagern. Hört nicht auf die Träume, die sie träumen. Denn Lüge ist das, was sie euch in meinem Namen weissagen; ich habe sie nicht gesandt – Spruch des Herrn” (Jer. 29, 8-9). Die baldige Rückkehr ist ein Traum; das Exil wird siebzig Jahre dauern. Und was noch bemerkenswerter klingt, die Katastrophe stellt nicht die Niederlage ihres Gottes dar, sondern sie ist gottgewollt! Er übernimmt die Verantwortung dafür! „So spricht der Herr der Heere zur ganzen Gemeinde der Verbannten, die ich von Jerusalem nach Babel weggeführt habe” (Jer. 29, 4)!!!! Dieser Herausforderung folgt die nächste Überraschung: Gott bleibt nicht nur dabei, den Israeliten zu erklären, dass es Sein Wille war, dass sie nach Babylon deportiert wurden, und dass die Zeit ihres Exils ganze siebzig Jahre dauern würde, sondern befiehlt Seinen Leute folgendes Merkwürdige: „Bemüht euch um das Wohl der Stadt (m.a.W.: „Suchet der Stadt Bestes”), in die ich euch weggeführt habe, und betet für sie zum Herrn; denn in ihrem Wohl liegt euer Wohl” (Jer. 29, 7). Er befiehlt, sich um das Wohl Babylons zu bemühen, um das Wohl einer Stadt, die der Inbegriff der Sünde in der Bibel darstellt! Er befiehlt ihnen, für die Hauptstadt ihrer Feinde zu beten!
Gott mischt sich in die Geschichte der Menschen ein. Er identifiziert sich aber keineswegs mit einem bestimmten Volk, er bleibt frei und Herr der Geschichte. Mit den Israeliten hat Er einen besonderen Bund geschlossen. Weil aber die Israeliten diesen Bund nicht berücksichtigten und die soziale Ungleichheit unter ihnen stark wurde, hat Gott aufgehört, sich mit seinem Volk zu identifizieren.
Das Gleiche gilt für uns Christen auch. Wir sind das neue Volk Gottes und wir haben einen neuen Bund mit Ihm durch Jesus Christus abgeschlossen. Dieser Bund repräsentiert das JA-Wort Gottes an die Welt. Er bringt Frieden in die Welt und eröffnet Wege des Lebens für alle Kinder Gottes, für alle Menschen auf der Erde. Teil dieses Bundes ist auch der alte Bund. Er gilt weiterhin und lehrt uns, uns um das Wohl der Stadt, in der wir, egal aus welchem Grund, gerade leben, zu bemühen und für sie zum Herrn zu beten. Das hat die Orthodoxe Kirche in ihrer Liturgie aufgenommen, und bei jedem Gottesdienst betet sie zunächst „für den Frieden der ganzen Welt und die Einigung aller Menschen” und dann „für diese Stadt, dieses Land und für jedes Land”. Aus diesem Grund hat die Orthodoxie eine starke Verbindung mit der Kultur entwickelt. Historisch hat die Orthodoxe Kirche im Rahmen des Römischen Reiches den größten Teil ihrer Geschichte geschrieben, und sich um das Wohl des Reiches und jeder einzelnen Gemeinde dieses sogenannten Byzantinischen Reiches bemüht. Sie hat sich sehr stark mit der Hauptstadt dieses Reiches identifiziert, mit Konstantinoupolis, oder einfach der Polis, die eine ganz besondere Rolle in der Geschichte der Orthodoxie hatte und immer noch spielt. Sie hat dazu beigetragen, dass dieses Reich und diese Stadt Großes für die Weltkultur geschaffen hat. Hervorragende Errungenschaften in Theologie, Philosophie, Wissenschaft und Kunst, hervorragende Persönlichkeiten im Bereich der Kirche, des Mönchtums und der Gesellschaft wurden von dieser Hochzeit der christlichen Überzeugung mit dem Leben und der Geschichte der Einwohner von Byzanz hervorgebracht.
Und trotzdem! Gott hat sich nicht mit diesem Reich oder der orthodoxen Kirche identifiziert. Das Reich ging verloren. Und die orthodoxe Kirche hat jahrhundertelang unter fremden Herrschern leben müssen. Sie hat aber ihre Liturgie nicht geändert: sie betete und bemühte sich immer um das Wohl der Gemeinde, der Stadt und des Landes, wohin sie der Wille Gottes gerade geführt hat.
Die Geschichte führt uns immer wieder vor Herausforderungen und Überraschungen. Den Willen Gottes in der Geschichte zu erkennen bleibt immer eine Aufgabe der Kirche. Das bekannte biblische Wort „Suchet der Stadt Bestes” hat einen konkreten Kontext, der uns vor falschen Interpretationen und vor falschen Sicherheiten und Selbstgerechtigkeiten schützt. Sich um das Wohl der Stadt, bzw. der Gesellschaft zu bemühen ist sehr oft ein Kreuz für uns Christen. Die Gesellschaft könnte auch eine vom Evangelium ganz weit entfernte Gesellschaft sein, und wir, die wir diesen Auftrag von Gott bekommen, sind sehr oft traumatisierte Menschen, Menschen mit Makeln und Schwachheiten. Dieses biblische Wort zeigt uns aber, dass wir auf jeden Fall einen Auftrag gegenüber der Welt, gegenüber der Gesellschaft haben. Und wir Orthodoxen betonen immer wieder auch die Fortsetzung des biblischen Wortes „und betet für sie zum Herrn”, denn ohne Gebet, ohne dieses persönliche Ringen mit Gott, ohne diese Spannung kann man sich nicht authentisch um das Wohl einer Stadt bemühen. Diesen doppelten Auftrag, das Bemühen um das Wohl der Menschen und der Gesellschaft kombiniert mit dem Gebet für sie, versuchen wir als Griechisch-Orthodoxe Metropolie von Deutschland hier in unseren Gemeinden zu erfüllen. Unser Vater, Metropolit Augoustinos, betont immer wieder, bei jedem Besuch einer Gemeinde, dass wir nicht zufällig hierher gekommen sind. Gott wollte, dass wir in diesem schönen und friedlichen Land wohnen und arbeiten, um zum Wohl dieses Landes beizutragen – und mehr noch, für dieses Land beten. Viele orthodoxe Mitbrüder und Mitschwestern in Russland, in Griechenland, in Georgien oder in Bulgarien z.B. verstehen es nicht, warum wir uns als Ökumenisches Patriarchat und als Griechisch-Orthodoxe Metropolie von Deutschland ökumenisch engagieren. Wenn man in seiner eigenen Welt lebt, wie die Israeliten im Heiligen Land vor der babylonischen Eroberung Jerusalems, versteht man nicht, wieso man sich um das Wohl der Feinde bemühen und für sie beten sollte. Gott hat sie nach Babylon geführt, damit sie sich für diesen Auftrag öffnen, damit sie existentiell verstehen können, dass Gott sich nicht mit einem Volk identifiziert, dass Gott Vater aller Menschen auf der Erde ist und sich um das Wohl aller Menschen kümmert.
ORTHODOXIE AKTUELL 6-7/2015 Seite 2-4
von Erzpriester Georgios Basioudis
Orthodoxie und Polis „Suchet der Stadt Bestes”