Rosen und Dornen
Es gibt Widersprüche, die bemerkt man gar nicht, wahrscheinlich, weil man sich so sehr daran gewöhnt hat. Fragte mich mein Sohn plötzlich: „Papa, wieso haben wir das Kreuz mit Blumen geschmückt?“. „Weil wir es verehren“, fiel mir als korrekte Antwort ein. Aber er beharrte darauf: „Das Kreuz ist doch ein schreckliches Marterinstrument mit Nägeln und Schmerzen und Tod.“ „Ja sicher, aber im Tod hat Christus den Tod zertreten, also wurden wir durch den Tod Christi erlöst“, wusste ich die theologisch richtige Antwort. „Aber da passen vielleicht Dornen, aber keinen Rosen“, ließ mein Sohn nicht locker. Jedoch in der Kirche legten wir das Kreuz in ein Bett von Rosen, von denen wir die Stiele mit den Dornen abgeschnitten hatten. Wir hoben das Kreuz am dritten Fastensonntag der Kreuzverehrung in die Höhe, alle Gläubigen verehrten es und nahmen Blumen mit nach Hause, um daheim ihr Wandkreuz mit ihnen zu schmücken.
In antiken Mosaiken sehen wir Kreuze, aus denen Wasserströme sprudeln, an denen Hirsche trinken. Quelle ewigen Lebens ist das Kreuz geworden, der neue Paradiesesbaum. Zur Kreuzerhebung singen wir deshalb auch eher ein Siegeslied denn ein Trauerlied: „Rette Herr Dein Volk und segne Dein Erbe … und behüte Deine Gemeinde durch Dein Kreuz.“
Einmal auf die Paradoxien aufmerksam gemacht, findet man deren viele im Kirchenjahr, genauer ist eigentlich alles von Weihnachten in der Geburtshöhle bis Ostern in der Grabeshöhle paradox. Der harte Kontrast von Geburt und Tod zeigt sich jedes Jahr, weil grundsätzlich das Fest der Verkündigung, also der Beginn der Menschwerdung des Sohnes Gottes in der Allheiligen Gottesmutter, genau neun Monate vor Weihnachten immer in die Fastenzeit vor Ostern fällt. Dies Fest feiern wir ja nicht nur am 25. März, sondern bedenken das Ereignis und das Geheimnis der Menschwerdung des Sohnes Gottes auch an den fünf Freitagen der Fastenzeit, zuerst mit den vier einzelnen Abschnitten (Chairetismoi) des Hymnos Akathistos, dem Gruß der unvermählt Vermählten, und dann zum Schluss mit dem gesamten Hymnos.
Noch augenfälliger wird eine scheinbare Paradoxie am Karfreitagabend. Nach der Kreuzabnahme Christi und der Trauer der Grabesruhe stimmen wir bereits österliche Gesänge an, die Auferstehungsevlogitaria, die Priester tragen weiße Gewänder, das Grabtuch Christi, der Epitaphios, wird unter einem blumengeschmückten Baldachin durch die Strassen getragen, kaum einer lässt sich den Gottesdienst entgehen, alle gehen mit oder bilden Spalier und bücken sich am Schluss unter dem Epitaphios hindurch.
Aber auch schon die drei ersten Tage der Karwoche haben eine besondere Atmosphäre, wenn wir in den Evangelien und den Hymnen die Passion Christi bedenken, ihn aber als Bräutigam begrüßen und in der Ikone des leidenden Christus den Bräutigam erkennen, den wir wach erwarten. Vorher schon hat der Lazarossamstag uns auf Ostern eingestimmt, obwohl die Karwoche noch bevorstand. „Um die allgemeine Auferstehung zu bezeugen“ singen wir und lesen die Auferstehungstexte, die eigentlich den Sonntagen vorbehalten sind. Bevor wir zum Leiden des Herrn kommen, stellt uns die Kirche den Sinn, das Ziel und des Ende von all dem vor Augen.
Im Griechischen gibt es tatsächlich ein Wort für das Gefühl, das Trauer und Freude gleichermaßen umfasst: Charmolipi, freudige Trauer, traurige Freude, Freude und Trauer. In die Trauer mischt sich Trost, im Schmerz keimt Hoffnung, der Kummer sieht auch ein wenig Licht. Das ist gar nicht so lebensfremd, denn in der Realität des Lebens liegen die Dinge nicht weit auseinander. Das ganze Leben bewegt sich in diesem Spannungsfeld von Glück und Pech, Freude und Trauer, Gewinn und Verlust. Aber noch mehr: der Gläubige sieht sich immer in der Hand Gottes, erkennt die Prüfungen, weiß um die Bewährungen, erwartet den Sieg Gottes. Er wirft die Rosen nicht weg wegen der Dornen, sondern erfreut sich an den Rosen trotz der Dornen.
von p. Martinos Petzolt
Rosen und Dornen