Der Berg der Verklärung – Eine sinaitische Hypothese
Es war ein hoher Berg, auf den der Herr die drei Apostel Petrus, Jakobus und Johannes führte und auf dem er ihnen seine Göttlichkeit im ungeschaffenen Licht zeigte. Doch ein Name für diesen Berg ist nicht überliefert, keiner der drei Evangelisten Matthäus (17,1-9), Markus (9,2-10) und Lukas (9,28-36) nennt einen geographischen Namen oder eine Bezeichnung. Das ist insofern bemerkenswert, als alle großen Ereignisse im Leben Jesu sehr genau zu lokalisieren sind, angefangen von der Verkündigung in Nazaret und der Geburt in Bethlehem über viele Wunder in Galiläa und am Jordan, oft mit genauer Ortsangabe in Kapharnaum, Kana, Tiberias, Tyros, Gerasa, Bethsaida bis zur Kreuzigung auf Golgotha und den Erscheinungen in Jerusalem, Emmaus und Tiberias und schließlich die Himmelfahrt vom Ölberg.
Viele hohe Berge in Palästina kommen für die Verklärung nicht in Frage, aber im Alten Testament findet sich ein Psalm, der vom „Licht Deines Angesichts“ (Ps 88,17) prophetisch spricht und zugleich zwei Berge nennt: Thabor und Hermon. Tatsächlich wurden von den heiligen Vätern der Kirche beide Berge für möglich angesehen bis der heilige Kyrillos, Bischof von Jerusalem (+386), sich auf den Thabor festlegte und dorthin die Pilgerreisen kanalisierte. Thabor ist zwar kein hoher Berg, aber er liegt frei zugänglich und für die Pilger günstiger als das zwar hohe, aber weit im libanesischen Norden liegende Hermongebirge.
Doch wenn vielleicht keiner der beiden Berge der historische Ort der Metamorphosis Christi war?
Einen kleinen Hinweis kann der zweite Petrusbrief geben, in dem der Apostel das eigene Sehen der Majestät und das Hören der Stimme vom Himmel her selbst bezeugt, „denn wir waren mit ihm zusammen auf dem heiligen Berg (1,16-18). Der große „Heilige Berg“ der alttestamentlichen und auch der christlichen Tradition ist aber der Sinai. Er ist der Gottesberg (1Kön 19,8), und bis heute und lange bevor auch der Athos Heiliger Berg genannt wurde, trägt der Sinai den Titel: „der von Gott betretene heilige Berg“.
Am Sinai sprach Gott im brennenden Dornbusch und stellte sich Moses mit dem Namen vor, der bis heute auf jeder Christusikone geschrieben steht: O ΩN. Hier empfing Moses die von Gott beschriebenen Steintafeln der Zehn Gebote. Schließlich wird hier auch die Höhle lokalisiert, in der Elias wohnte und von Gott ernährt wurde. Dass genau diese beiden Propheten auch bei der Metamorphosis Christi wieder auftauchen, ist jetzt vielleicht nicht mehr so überraschend.
Doch die eigentliche Verbindungslinie ist eine andere: Beide Propheten wollten Gott schauen, und Gott offenbarte sich ihnen auf eine gewisse Weise, aber nicht im gewünschten Maße. Moses bat Gott: „Zeige Dich mir!“ Gott antwortete ihm: „Ich will all meine Herrlichkeit an Dir vorüberziehen lassen … doch kannst Du mein Angesicht nicht schauen“ (Ex 23, 18 – 20). Moses durfte sich auf den Felsen stellen, doch bedeckte Gott mit seiner Hand sein Gesicht, während er mit seiner Herrlichkeit vorüberzog. Und er sprach: ,,Wenn ich meine Hand zuriickziehe, wirst Du meine Rückseite schauen, aber mein Angesicht wirst Du nicht sehen“ (Ex 33,23). Moses wurde seine Bitte letztlich nicht erfüllt, denn er durfte nur Gottes Rücken sehen, nicht aber ihm von Angesicht zu Angesicht begegnen, denn kein Mensch sieht Gott und bleibt am Leben (Ex 33,20). Deshalb verhüllte auch der große Prophet Elias sein Gesicht mit seinem Mantel, als er auf dem Gottesberg vor den Herrn treten sollte, der im sanften Säuseln erschien (1Kön 19,11-13) „Stell Dich vor den Herrn auf dem Berg“ (V.11) lautete die Aufforderung Gottes, doch gesehen hat auch Elias das Angesicht Gottes nicht, als er seine Stimme vernahm.
Christus erklärt das Geheimnis Gottes: „Den Vater kennt niemand als nur der Sohn und wem der Sohn es offenbaren will“ (Mt 11,27). Dieser Sohn ist ,,der Weg und die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater außer durch mich. Wenn Ihr mich erkannt habt, werdet Ihr auch meinen Vater kennen“ (Joh 14,6f.). Christuserkenntnis ist Gotteserkenntnis. Deshalb kann er Herr ganz direkt sagen: ,,J e t z t kennt Ihr ihn und habt ihn gesehen” (V. 7b). Jetzt, mit, durch und seit der Menschwerdung Christi ist Gott zu erkennen und zu sehen.
Das gilt für alle Menschen, auch für die des Alten Bundes: Auch sie können Gott nur in Christus schauen und kennen. Deshalb, so sagen die heiligen Väter der Kirche, wurden Moses und Elias, der große Gesetzesstifter und der große Prophet auf den Berg der Verklärung geladen, wo sie Christus als Menschen und zugleich in seiner göttlichen Herrlichkeit schauen konnten. So wurde das endlich erfüllt, was ihnen bis dahin nicht möglich war, Gott von Angesicht zu Angesicht zu schauen. In jeder Beziehung ist der Neue Bund die Erfüllung des Alten. Nichts bleibt unerfüllt und unvollkommen, seit der Messias gekommen ist. Nun, da Gott in Christus die menschliche Natur angenommen und menschliche Gestalt hat, können die Menschen ihn wirklich mit ihren Augen sehen. In der Metamorphosis Christi zeigt sich umgekehrt, dass Jesus von Nazareth wirklich der Sohn Gottes ist, sichtbar gewordener Gott.
Zur Verklärung führte Christus Petrus, Jakobus und Johannes auf einen hohen Berg, abseits, allein. Er führte sie möglicherweise genau dorthin, wohin auch Moses und Elias gekommen sind und alle sahen dieselbe Offenbarung Christi als wahren Gott. Das bedeutet auch eine Gleichstellung des Erlebnisses der drei Apostel mit den Gottesbegegnungen von Moses und Elias. Warum soll dieses Ereignis nicht auch auf dem Berg des Moses und Elias, dem Berg der Gotteserscheinungen des Alten Bundes, stattgefunden haben?
Gott ist selbst zwar nicht an Raum und Zeit gebunden, und doch gibt es ganz sicher Gnadenorte, die dadurch hervorgehoben sind, dass an ihnen besondere Heilsereignisse geschahen oder außergewöhnliche Gnaden vermittelt werden. Gott hätte an verschiedenen Orten dem Moses und dem Elias erscheinen können, er tat es aber am selben Ort, vor allem um die Kontinuität und Identität seiner Offenbarung zu zeigen. Die Bibel spricht oft von der Treue Gottes. Es spricht nichts dagegen, die Linie der Gotteserscheinungen bis zur Metamorphosis weiterzuziehen.
Mag Christus mit seinen Aposteln auch einen nahe gelegenen galiläischen Berg, etwa den Thabor, bestiegen haben, zumindest in seiner symbolischen Bedeutung übernimmt dieser Berg dann die Stellvertretung des Sinai. Es spricht aber nichts gegen eine größere und längere Wanderschaft auf den Heiligen Berg Sinai, der Herr hatte ja sicherlich bewusst nur drei Jünger für die vermutlich anstrengende Bergbesteigung ausgesucht, abgesehen davon, dass Christus weitaus größere Wunder als das einer längeren Wanderschaft vollbracht hat.
Von π. Martinos Petzolt